„Präsenz statt Prognosen“: Interview mit Boris Lebedev von Reinventing Society
Boris Lebedev ist Transformationsbegleiter, Speaker und Teil von Reinventing Society. Im Gespräch mit uns für das Logbuch des Reallabor Zukunft spricht er über echte Visionen, die Rolle des Körpers im Wandel und warum es weniger um Prognosen als um Präsenz geht. Boris organisiert gemeinsam mit anderen das dritte Lab des Reallabors Zukunft vom 23.-26.06. zum Thema „Zukünfte antizipieren und Wirkungsmessung“.
Boris, du begleitest Menschen und Organisationen in Transformationsprozessen. Was bedeutet das konkret?
Ich sehe mich als Impulsgeber und Katalysator für Menschen und Organisationen, die sich in tiefen Veränderungsprozessen befinden. Mit Reinventing Society machen wir neue Zukünfte erfahrbar, indem wir Szenarien entwickeln, die Lust auf Zukunft machen. Wir begleiten Menschen ganzheitlich, also nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern systemisch. Es geht darum, neue gesellschaftliche Normen zu schaffen und bestehende Inseln des Wandels zu skalieren.
Bei Reinventing Society sprecht ihr von “Realutopien”. Was meinst du damit?
Realutopien sind keine fernen Zukunftsvisionen, sondern konkrete Praktiken und Projekte, die heute funktionieren und in eine lebenswerte Zukunft zeigen. Zum Beispiel lokale Energieversorgungssysteme oder die Gemeinwohl-Ökonomie. Unsere Aufgabe ist es, sie zu verbreiten und ihnen zu gesellschaftlicher Relevanz zu verhelfen. Unsere Plattform realutopien.de stellt dafür Methoden und Werkzeuge zur Verfügung.
Wie bist du zu diesem Beruf gekommen?
Ich habe Nachhaltigkeitswissenschaften studiert, aber schnell gemerkt, dass es in klassischen Organisationen oft bei grüner Politur bleibt. Das hat mich nicht erfüllt. Ich habe viel experimentiert: ein Tiny-House-Dorf gegründet, in alternativen Lebensmodellen gelebt, geforscht, wie echte Veränderung möglich wird. Heute verstehe ich Zukunft nicht als etwas, das wir im Kopf entwerfen, sondern als etwas, das durch uns wirkt. Verkörperte Visionen sind das Ziel.
Was meinst du mit “verkörperter Vision”?
Es gibt eine Tendenz über Zukunft zu sprechen. Allerdings bleibt es dabei oft kognitiv. Zukunft ist für mich etwas Ganzheitliches, und was auch im Jetzt passiert. Es geht also um Zustände, die nicht nur im Kopf, sondern im Herz und im Körper verankert sind – und die ich im Jetzt leben kann. Wenn ich mir z.B. also eine füllige Zukunft vorstelle, habe ich in mir schon Jetzt die Fülle kultiviert? Wir sind der Ansicht: „There is no way to Utopia, Utopia is the way“. Oft wird dann deutlich, dass wir da noch gar nicht sind. Das ist oft schmerzhaft und traurig. Doch erst wenn wir diese schweren Gefühle zulassen und annehmen entsteht Raum für Neues. Erst dann können wir kraftvoll in eine Zukunft schreiten.
Wie sieht so ein Workshop konkret aus?
Wir schaffen sichere Räume durch Konsens und einem Verlassen der gewöhnlichen Muster. Auch ein Einverständnis, dass Dinge im Workshop passieren, die unser Kopf zwar verstehen möchte, doch bisher nicht kann ist uns wichtig – nur so können wir gewohnte Denk- und Handlungsmuster verlassen. In unseren Workshops arbeiten wir dann z.B. mit Elementen wie Stille, systemischer Aufstellungen, Präsenz, und auch Emergenz. Ganz wichtig – den Körper – nehmen wir immer mit. Das kann erstmals ungewohnt sein – und genau darum geht es. Gewohnte Denkmuster zu verlassen fühlt sich oft eigenartig und neu an. Dabei ist uns ein integraler und humorvoller Umgang damit besonders wichtig. Und es wirkt. Menschen berichten oft von Aha-Momenten, die lange nachhallen und etwas in Bewegung setzen.
Ihr sprecht vom “Navigieren des Unbekannten”. Im Reallabor beschreiben wir dieses Navigieren als Nebelkompetenz. Was bedeuten diese Begriffe für dich?
Es geht darum, mit den Ungewissheiten unserer Zeit umzugehen. Pläne helfen kaum noch – wir brauchen andere Kompetenzen wie z.B.: Präsenz, Verbindung, Anbindung und auch den Mut zum Nichtwissen. Wie navigieren wir, wenn alte Systeme nicht mehr greifen? Das ist unsere zentrale Forschungsfrage.
Und wie messt ihr die Wirkung eurer Arbeit?
Klassische Wirkungsmessung greift oft zu kurz. Wir erhalten viele Rückmeldungen wie: “Das hat mich tief berührt” oder “Ich habe mein Leben danach neu ausgerichtet”. Das lässt sich schwer in Zahlen fassen. Fotos, Geschichten, Begegnungen– das sind unsere Indikatoren. Transformation ist nicht linear. Klar ist, dass es etwas mit Menschen macht – auf tiefer Ebene.
Hast du ein persönliches Beispiel für eine Realutopie?
Viele! Das “Wir bauen Zukunft” Gelände und die Vision selbst ist eine. Die Gemeinwohl-Ökonomie. Oder auch neue Beziehungs- und Erziehungsmodelle, die gerade entstehen. Ich werde bald Vater, und frage mich: Wie möchte ich das gestalten? Nicht nur um alte Muster meiner Eltern zu wiederholen, sondern die Dinge mitzunehmen die funktioniert haben und gleichzeitig auch neue Elemente auszuprobieren.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass wir die Kraft der Vision wiederentdecken – nicht als Flucht, sondern als Kompass. Dass wir lernen, mit Komplexität und Ungewissheit kreativ zu leben. Und dass wir die Projekte, die bereits Hoffnung machen, nicht nur feiern, sondern strukturell unterstützen.
Interview: Anja Adler
Foto: Daniel Willinger, Sinn Maludienst